*8:58 Uhr* Nach einem hektischen Frühstück im Stehen in einer heillos überfüllten Bäckerei am Bahnhof beginne ich langsam daran zu zweifeln, dass es irgendeine Form von Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt. Denn obwohl ich derjenigen bin, der um 7:15 Uhr aufgestanden ist und Max Dörp höchstwahrscheinlich immer noch schläft, bin ich ebenfalls derjenige, dem die gestresste Dame neben mir gerade ihren Grüntee über die Schuhe geschüttet hat.
*9:06 Uhr * Abfahrt nach Bad Oldesloe zum Jugendmannschaftspokalfinale zwischen dem SV Bad Oldesloe und TuRa Harksheide. Vor knapp fünf Tagen habe ich mich bereiterklärt für den vielbeschäftigten Christian Lohrie einzuspringen und dieses schachliche Highlight, zusammen mit Max Dörp, zu Schiedsrichten. Da gab es jedoch scheinbar ein Missverständnis, und naja, lange Rede kurzer Sinn, Max baut heute einen Wintergarten und ich fahre alleine.
*9:24 Uhr* Ich werde von meinem guten Freund und Spitzenbrett des SV Bad Oldesloe, Lennart Schneider, am Bahnhof eingesammelt und gemeinsam bereiten wir alles notwendige vor, damit an diesem Samstag, den 05.05.18. entschieden werden kann, wer dem Lübecker SV (Gewinner des letzten Jahres) die Trophäe der besten Jugendmannschaft abnehmen wird. Wach bin ich zwar immer noch nicht, aber die Vorfreude auf einen großartigen Mannschaftskampf steigt.
*9:55 Uhr* Wie erwartet erscheint Harksheide mit einer Top-Besetzung, darunter Daniel Kopylov und die Meisterklassenspieler Artur Oganessjan, sowie Taron Khachatryan. Doch vorentschieden ist der Wettkampf keineswegs, die Bretter eins und zwei werden auch von Oldesloe mit durchaus bekannten Namen besetzt. So finden wir hier den bereits erwähnten Lennart Schneider und Baran Yüksel. Wird es ihnen gelingen, TuRa trotz klarer Favoritenrolle zu bezwingen?
*10:00 Uhr* Nach einer kurzen Ansprache meinerseits beginnen die Partien pünktlich, gespielt wird nach Berliner Wertung, das bedeutet: Ein Sieg an Brett 1 und 2 einer Mannschaft entscheidet den Tag. Die Spieler haben 2 Stunden für 40 Züge und im Anschluss 30 Minuten für den Rest der Partie.
Daniel Kopylov trifft auf Lennart Schneider, Artur Oganessyan muss sich gegen Baran Yüksel beweisen, Taron Khachatryan bekommt es mit Anes Idrizalavi zu tun und Philipp Guo spielt gegen Ruben Engels.
*10:34 Uhr* Ich sitze an meinem Schiedrichtertisch und nach erster getaner Arbeit bleibt mir endlich die Zeit, einen Blick auf die Partien zu werfen.
Lennart geht es zu diesem Zeitpunkt ähnlich wie mir heute morgen, er hat Startschwierigkeiten. Nach 12 Zügen steht er schon gewaltig unter Druck. Daniel konnte den D-Bauern mit seiner Dame auf d7 festnageln und kann dazu noch ein dominantes Läuferpaar vorweisen. Definitiv eine unangenehme Stellung gegen einen nominell stärkeren Gegner.
Artur und Baran haben eine interessante, ausgeglichene Stellung mit Chancen für beide Seiten auf dem Brett. Baran hat das Läuferpaar und Arturs Königsstellung sieht anfällig aus, dafür hat der Oldesloer einen schwer zu deckenden Bauern auf e5, der eventuell etwas zu früh alleine ins schwarze Lager eingedrungen ist. Dieser vereinsamte Bauer bietet dem Nachziehenden gute Möglichkeiten auf diese Schwäche zu spielen.
Aufgrund der Berliner Wertung haben Taron und Artur beide schwarz an Brett 2 und 3, doch genau wie Artur kam auch Taron ziemlich gut aus der Eröffnung. Er scheint sich in ihm bekannten theoretischen Gewässern aufzuhalten, nach 15 Zügen musste Schwarz nicht einmal 10 Minuten Bedenkzeit aufbringen und steht dennoch etwas aktiver und hat zudem das stärke Zentrum. Weiß hingegen hat deutlichen Raumnachteil und nimmt zu diesem Zeitpunkt bereits eher die Rolle des Verteidigers ein.
An Brett 4 sind keine besonderen Vorkommnisse zu vermelden, die Spieler testen erst einmal verschiedene Ideen und prüfen die Spielstärke des Gegners.
*10:52 Uhr* An Brett 3 wurde der Druck auf die weiße Stellung so groß, dass der einzige Befreiungszug, der etwas Gegenspiel im Zentrum generiert, einen Bauern kostet. Dies nimmt Anes, vermutlich inkorrekter Weise, in Kauf. Meiner Meinung nach hätte man in dieser Situation auf die schwarzen Pläne warten und die Stellung einfach passiv weiterspielen sollen, in der Hoffnung, dass der auf dem Papier überlegene Gegner übertriebene Gewinnversuche startet.
An Brett 4 ist die Lage für Oldesloe etwas aussichtsreicher geworden, bei einer Endspielabwicklung ging ein Bauer für mir nicht ersichtliche Kompensation über Bord, wodurch sich die Partie langsam aber sicher zu einem Spiel auf ein Ergebnis entwickelt.
*11:00 Uhr* Zur vollen Stunde zeichnet sich an beinah jedem Brett ein klarer Trent ab. Lennart und Daniel befinden sich in einem Endspiel mit Mehrbauern für Daniel, Taron steht bereits deutlich auf Gewinn, mit unglaublich aktiven Figuren und zwei Mehrbauern, zuzüglich diverse Felderschwächen in der weißen Stellung. Am letzten Brett kann schwarz seinen Mehrbauern gut zur Geltung bringen, sein Gegner wird Probleme bekommen, dieses Endspiel zu halten. Lediglich an Brett zwei ist alles offen, sollte Artur die Damen tauschen können steht er vielleicht etwas besser, wenn Baran jedoch konsequent angreift möchte ich nicht beschwören, dass Artur angenehmer steht.
*11:11 Uhr* Artur inzwischen mit einem Bauer mehr, doch Baran hat immer noch Angriffspotential in diesem Schwerfigurenendspiel.
Philipp Guo`s Stellung bricht nun vollkommen auseinander, nicht nur, dass er sich gegen die Stellung mit Minusbauern zur Wehr setzen musste, nein, jetzt findet Ruben auch noch eine gefährliche Springergabel, wie auf dem Bild unten zu sehen, wonach weiß nun auch den letzten Funken Hoffnung verloren haben sollte und endgültig auf Verlust steht.
*11:21 Uhr* Taron gewinnt eindeutig, nach dem Bauernverlust(-opfer) im 14. Zug war die Stellung nicht mehr zu halten und der schwarze Angriff schlug durch. Die Partie dauerte Rund 90 Minuten über 24 Züge.
*11:36 Uhr* Am bis dato unklarsten Brett drehte Artur den Spieß einfach um und ging selbst auf Königsjagt, womit er erfolgreich war und kurz darauf gewann. Beinahe zeitgleich gab Lennart seine Partie auf. Oldesoe hat sich wacker geschlagen und überall eine mehr oder weniger spielbare Stellung aus der Eröffnung mitgenommen, aber die Endspiele konnte keiner der ersten drei Bretter halten, womit wir TurRa bereits vorzeitig zum Jugendmannschaftsmeister-Titel gratulieren dürfen.
*11:42 Uhr* Oldesloe ergattert den zu erwartenden Ehrenpunkt am vierten Brett, wonach das Endresultat 3:1 lautet.
*15:50 Uhr* In der Zwischenzeit bin ich Zuhause angekommen und lasse den Tag noch einmal Revue passieren. Unter anderem sehe ich mir die Partien des Tages an und möchte euch die Partie des Spitzenbrettes nicht vorenthalten. Unter der Partie findet ihr alle Bilder, die ich über den Tag geschossen habe.
1. e4 {0} c5 2. Nf3 e6 3. g3 Nc6 4. Bg2 g6 5. O-O Bg7 6. c3 Nge7 7. d3 O-O 8.
Be3 b6 9. d4 cxd4 10. Nxd4 Bb7 11. Nxc6 Bxc6 12. Qd6 f5 13. Bg5 Rf7 14. exf5
Bxg2 15. fxe6 dxe6 16. Qxd8+ Rxd8 17. Kxg2 Rd5 18. Bxe7 Rxe7 19. Na3 Red7 20.
Rae1 Kf7 21. Re2 R7d6 22. Rfe1 b5 23. Nc2 h5 24. Ne3 Rd3 25. Nc2 R3d5 26. h4 a5
27. Na3 Bf6 28. Re4 Rc6 29. R1e2 Bg7 30. Nc2 Rcd6 31. Ne3 Rc5 32. Nf1 Rcd5 33.
Nh2 Bf6 34. Nf3 Ke7 35. Rc2 Rc5 36. Rd2 Rdd5 37. Rxd5 Rxd5 38. Re2 b4 39. c4
Rc5 40. b3 a4 41. Ne1 axb3 42. axb3 Ra5 1-0
Ab da sind die Geschehnisse nicht mehr zu 100% rekonstruierbar, aber von dort an war die Partie ein strategischer Sieg und Daniel gewann kurz darauf. Ich fand Daniels Spielweise und langsame Verbesserung der Stellung sehenswert und wollte die Partie, obwohl sie nicht komplett ist, veröffentlichen.
Ich freue mich auf den kommenden Jugendmannschaftspokal und bin gespannt, ob TuRa seinen Titel verteidigen kann.
Euer Lukas Nagy